Es ist noch nicht ganz Nacht, der dichte Wald liegt still, in bläuliches Dämmerlicht getaucht. Nur das sanfte Gluckern des vom Regen angefüllten Baches und das noch leisere Tropfen von den Blättern der Bäume bilden eine friedliche Geräuschkulisse. Platsch! Ein Kinderfuß trifft auf eine der tieferen Pfützen. Kurz darauf hört man das hastige Trommeln vierer Hufe und das glockenhelle Lachen eines kleinen Mädchens. Ein Hirsch prescht ihr voran, zwischen den schwarzen Stämmen der Bäume nicht mehr als ein weißer Fleck, das Kind rennt ihm unbeirrt hinterher.

Geh nicht zu tief in den Wald ..“

Das hatte ihr die Großmutter immer gesagt. Hatte sie gewarnt vor einem schrecklichen Ungeheuer, das die Herzen von Kindern frisst. Kein Mensch sie jemals fand, nie wieder kehrten sie zurück. Doch welche Gestalt er annimmt, hatte sie nie erwähnt. Das Mädchen hat keine Angst, wie Kinder eben sind. Immer tiefer in den Wald rennt sie hinein, nur darauf bedacht, dieses wunderschöne Tier nicht aus den Augen zu verlieren. In jenem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als ihn zu streicheln. Doch sobald er sie bemerkte, war er losgeprescht. Und nun verfolgt sie ihn, nichtsahnend was sie erwartet.

.. denn dort lauert der Geist des Waldes auf dich!“

Ihre Beine fliegen nur so zwischen Stöcken und Steinen dahin. Sie müsste sich wundern, wer hätte schon gedacht, dass sie so weit, so schnell rennen kann? Doch in ihrem Denken ist für nichts anderes Platz, als für dieses majestätische Tier. Immer wieder schimmert das weiße Fell im Mondlicht zwischen den Bäumen hervor. Sie merkt auch nicht, wie die Nacht hereinbricht. Denn selbst in der pechschwarzen Dunkelheit umgibt sie das unwirkliche blaue Leuchten des tiefen Waldes. Plötzlich schafft sie es, dem Hirsch dichter auf die Fersen zu rücken. Bald merkt sie, dass er stehen geblieben ist. Was sie nicht bemerkt, ist das Geräusch der trommelnden Hufe, das sie weiterhin begleitet.

Er wird dich locken, in schöner Gestalt ..“

Das Tier ist ihr direkt zugewandt und scheint sie anzusehen. Das kurze Aufflackern des Triumphes wird jäh durchbrochen von Angst, die sich wie ein Regen aus Eis über sie ergießt. Es sind diese tiefschwarzen Augen, die ihren Geist förmlich in sich aufzusaugen drohen. Und doch kann sie ihre Schritte nicht bremsen und muss mit ansehen, wie das Tier an Größe und Kontur gewinnt. Sie will schreien, doch die Angst zwingt sie still zu sein. Das Wesen rückt immer näher und sie schließt die Augen, bereitet sich auf den schmerzhaften Zusammenstoß vor. Sie galoppiert immer schneller.

.. so unschuldig weiß und rein, dass du ihn berühren willst.“

Stillstand. Doch sie spürt, dass es nicht der Verdienst ihres eigenen Willens war. Neugierig öffnet sie die Augen, der Hirsch befindet sich nur noch eine Handbreit von ihr entfernt. Für den Bruchteil einer Sekunde brennt sich der Anblick in ihr Gedächtnis. Das wunderschöne Tier aus ihrer Erinnerung war in Wirklichkeit ein furchtbares Monster. Das weiß schimmernde Fell – zerrupft und von eiternden Wunden durchsetzt. Maden winden sich darin und kriechen aus Mund und Nasenlöchern. Grünlicher Schleim tropft zischend auf den Waldboden herab. Sie kann den Blick nicht abwenden, während der Hirsch das Maul öffnet, um zu röhren.

Und dann verschlingt er dich, du kehrst nie mehr zurück!“

Doch es erklingt ein markerschütterndes Kreischen, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Noch während der Laut erklingt, verschwimmt seine Silhouette und er verschwindet. Sie seufzt erleichtert, doch statt der Kinderstimme erklingt ein Schnaufen, wie von einem Tier. Sie stutzt und blickt an sich herab, ihre Hände leuchten bläulich im sachten Licht des Waldes. Sie beugt sich herab um tiefer nach unten sehen zu können. Wann war sie denn so groß geworden? Zwischen der verschwommenen Strukur des Bodens schimmern ihr zwei goldene Hufe entgegen. Der Schock reisst sie von ihren vier Hufen zu Boden. Da erkennt sie, dass sie selbst zu dem geworden ist, was sie zuvor noch jagte.